Pressemitteilung vom 23.09.2013:
Hunderte von Flüchtlingen werden in der tunesischen Wüste dem Sterben
überlassen
Das Flüchtlingslager Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze, das
Flüchtlinge aus dem Libyen-Krieg aufnahm, wurde offiziell am 30.6.2013
geschlossen. Die Räumung der verbliebenen etwa 400 Flüchtlinge ist in
den kommenden Wochen zu befürchten.
Ende August 2013 besuchten Mitglieder des Netzwerks “Choucha Protest
Solidarity” das Flüchtlingslager Choucha. Dort leben immer noch ungefähr
400 Flüchtlinge — nach Angaben von IOM (International Organisation for
Migration) und UNHCR (Hohes Flüchtlingskommissariat der Vereinten
Nationen) 262 abgelehnte Asylsuchende und 135 anerkannte Flüchtlinge —
unter extrem harten Bedingungen, unter ihnen Familien, Kinder und kranke
Menschen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, medizinischer
Hilfe und Strom wurde vom UNHCR, der für das Lager verantwortlichen
Organisation, beendet. Flüchtlinge versuchen jetzt verzweifelt,
vorbeifahrende Autos anzuhalten und um Nahrungsmittel und Wasser zu
betteln. Das Lager sieht aus wie ein Schlachtfeld, da die meisten
Versorgungseinrichtungen von den NGOs zerstört wurden, bevor das Camp
geschlossen wurde, und Zelte wurden vom starken Wüstenwind zerfetzt. Um
etwas Geld zu verdienen, versuchen Flüchtlinge, als Tagelöhner in der
nächstgelegenen Stadt Ben Guerdane zu arbeiten, obwohl diese Jobs
miserabel bezahlt sind und die Konkurrenz mit tunesischen
Arbeitssuchenden sehr groß ist. Ohne die Unterstützung der NGOs werden
die verbliebenen Flüchtlinge nicht nur mit allen möglichen Problemen
allein gelassen und jeglicher Perspektive für ein normales Leben
beraubt, sondern fühlen sich auch unsicher in der einsamen Grenzregion.
Mit ihrem weiteren Aufenthalt im Lager Choucha fordern die Flüchtlinge
vom UNHCR, für alle von ihnen eine dauerhafte Lösung in Ländern mit
einem wirksamen Asylsystem zu finden, weil die “lokale Integration” in
Tunesien, die das UNHCR ihnen anbietet, nicht funktioniert. Abgelehnte
Asylsuchende werfen dem UNHCR schwerwiegende Fehler in ihren Verfahren
vor, die zu ihrer Ablehnung führten. Weil sie nicht in ihre
Herkunftsländer zurück können, hat diese Gruppe keine andere Wahl als im
Lager zu bleiben. Sie weisen damit darauf hin, dass es die Verantwortung
des UNHCR ist, ihre Verfahren neu aufzurollen und auch für sie
dauerhafte Lösungen zu finden.
Aber statt auf die Forderungen der Flüchtlinge einzugehen, scheint sich
die Situation zuzuspitzen. Ende August kündigte der Leiter des
UNHCR-Büros im Zarzis an, dass das Lager Choucha demnächst vollständig
geschlossen werde, weil die tunesische Regierung das Gelände benötige.
Im Fall einer Räumung befürchten die Flüchtlinge Gewalt von Seiten des
Militärs ähnlich wie im Mai 2011, als Soldaten Schüsse auf sie
abfeuerten. Anschließend könnte die Abschiebung der im Camp verbliebenen
Flüchtlinge drohen.
Sowohl die abgelehnten als auch die anerkannten Flüchtlinge bekamen
Aufenthaltserlaubnisse für Tunesien angeboten, obwohl diese Information
nicht jeder einzelnen Person im Lager vermittelt wurde und einige
Flüchtlinge uninformiert blieben. Sowohl das Programm für die
abgelehnten als auch das für die anerkannten Flüchtlinge wurden in einem
unklaren rechtlichen Rahmen angekündigt. Bisher ist nicht sicher, wann
und ob überhaupt diese Aufenthaltserlaubnisse ausgestellt werden und ob
sie tatsächlich vor Polizeiübergriffen und Abschiebung schützen würden.
Darüber hinaus haben lokal integrierte Flüchtlinge kein Recht auf
Familiennachzug. Versprochene Leistungen wie die Unterstützung im
täglichen Leben und kostenlose Unterkunft wurden nicht gewährt, so dass
die Flüchtlinge selbst Wohnraum finden und von dem wenigen Geld, das sie
bekommen, bezahlen müssen. Außerdem wird die finanzielle Unterstützung
in den kommenden Monaten beendet. Dies sind einige der Gründe, warum die
meisten der anerkannten Flüchtlinge und abgelehnten Asylsuchenden die
angebliche Bleibeperspektive in Tunesien ablehnen. Weil sie verzweifelt
nach einem besseren Leben suchen, haben einige von ihnen der lokalen
Integration zugestimmt, aber das Geld, das sie vom UNHCR bekamen, dazu
verwendet, eine “illegale” Bootsüberfahrt über das Mittelmeer zu
bezahlen und damit ihr Leben zu riskieren. Andere organisieren seit dem
26. März 2013 ein Sit-in vor dem UNHCR-Büro in Tunis, um damit gegen die
lokale Integration zu protestieren und der Forderung nach Resettlement
(Ansiedlung in einem sicheren Land) für alle verbliebenen Menschen
Nachdruck zu verleihen.
Die Situation in Tunesien ist weiter instabil. Politisch motivierte
Morde und fehlende ökonomische Entwicklung vermischen sich mit
Misstrauen und Unzufriedenheit gegenüber der Regierung und führen zu
einem Mangel an Sicherheit für Tunesier_innen und noch mehr für
Ausländer_innen, von denen viele zusätzlich mit der täglichen Erfahrung
von Rassismus konfrontiert sind. Die politischen Eliten sind weit davon
entfernt, einen Konsens über eine Verfassung zu erzielen und noch viel
weniger über Gesetze zum Schutz von Flüchtlingen. Deshalb kann lokale
Integration für Flüchtlinge und Asylsuchende nicht als eine dauerhafte
Lösung betrachtet werden, wie das UNHCR glauben machen will!
Am 5. September 2013 traf eine Delegation des Netzwerks “Choucha Protest
Solidarity” zusammen mit den protestierenden Flüchtlingen in Tunis
Vertreter_innen des UNHCR und der EU-Delegation in Tunis, um mögliche
Lösungen für die verbliebenen Flüchtlinge zu diskutieren. Währenddessen
fand eine Protestkundgebung vor der EU-Delegation statt.
Nach Angaben des UNHCR wurden die meisten Flüchtlinge aus Choucha von
den USA (1.717) und Norwegen (485) aufgenommen. Die EU stellte nur sehr
wenige Resettlementplätze zur Verfügung. Deutschland nahm auf Druck von
Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen am meisten auf (201),
Großbritannien nur drei, Frankreich nur einen Flüchtling.
Wir fordern von den Regierungen der EU-Staaten, ihre Verantwortung zu
übernehmen aufgrund des Libyenkriegs und die verbliebenen Flüchtlinge
und Asylsuchenden aus Choucha aufzunehmen! Flüchtlingsschutz muss
wichtiger sein als das politische Interesse an der Vorverlagerung der
EU-Grenzen!
Aktuelle Informationen und ein Video von August 2013:
http://la.terre.est.pour.tous.over-blog.com/
Weitere Informationen: http://chouchaprotest.noblogs.org/
Informationen der akzeptierten Flüchtlinge, die vor dem UNHCR in Tunis
protestieren: https://www.facebook.com/refugees.shousha